Konferenz: Medienbasierte Holocaust-Rezeption und nationale Identität in acht Ländern
Nachfahren von Opfern, Tätern und Beobachtern des Juden-Genozids diskutierten auf Einladung von Univ.Prof. Jürgen Grimm am 17. und 18. Juni 2016 Probleme der Erinnerungskulturen in ihren Ländern auf einer Konferenz in Wien Geschichte ist nicht vergangen, sondern wirkt fort in der Gegenwart.
Bei den Nachkommen der Tätergesellschaften Deutschland und Österreich geht es bei der Holocaust-Rezeption hauptsächlich um Schuld und daraus resultierender Verantwortung, bei den Spätgeborenen der Holocaust-Überlebenden und ihrer Anverwandten in Israel um die Verarbeitung von Traumata in der Familie und Gesellschaft. Aber auch mittelbar und ambivalent Beteiligte wie die Ukraine, die den Nazi-Terror teilweise unterstützte und deren jüdische Bevölkerung selbst zum Objekt des Nazi-Terrors wurde, blickt in nationaler Befangenheit zurück. Leichter fällt es, den symbolischen Wert des Holocaust z.B. für die Parallelisierung mit dem „Holodomor“ (Millionen Hungertote im Rahmen des Stalin-Terrors in der Ukraine) im Dienste nationalen Narrativ zu nutzen. Auch Ungarn nimmt den Holocaust durch die Brille seines nationalen Grundverständnisses als „ewiges Opfer“ wahr und stellt lieber die eigenen Katastrophen in den Mittelpunkt des öffentlichen Erinnerns.
Wem also gehört der Holocaust? Welche Form des Erinnerns ist angemessen? Sind die Verarbeitungsimperative auf die mit den Tätern und Opfern verbundenen Gruppen beschränkt? Oder haben auch die Zaungäste des Holocaust eine Pflicht zur Konfrontation mit dem ultimativen Zivilisationsbruch? Und schließlich: Welche medialen Formen der Geschichtsvermittlung sind geeignet, zukünftige Rückfälle in die Barbarei zu erschweren. Diese und andere Fragen einer medienbasierten Erinnerungskultur wurden am 17.6.-18.6. auf einer internationalen Konferenz an der Universität Wien erörtert. Wien profiliert sich hiermit erstmalig nicht nur als ein Subjekt der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, sondern auch als Koordinator einer transanationalen Holocaust-Erinnerungsoffensive. Eröffnet wurde die Konferenz durch den Generalsekretär der jüdischen Gemeinde Mag. Raimund Fastenbauer, der der ansonsten hochgradig international besetzten Veranstaltung mit Vertretern aus Österreich, Deutschland, Ungarn, Ukraine, Russland, Türkei und Vietnam eine solide Erdung im Lokalen und in der jüdischen Kultur vermittelte. Inhaltliche Grundlage der Konferenz war ein mittlerweile 5 Jahre laufendes Forschungsprojekt „Mediale Geschichtsvermittlung im transnationalen Raum“ an der Universität Wien unter Leitung von Jürgen Grimm. Grundthese des Projekts: Geschichtsvermittlung geschieht heute fast ausschließlich medienbasiert. Durch die Herstellung von Medienkommunikaten zu kritischen historischen Ereignissen wird die Geschichtsvermittlung zunehmend transnationalisiert.
Anders ausgedrückt: In der Mediengesellschaft ist das Monopol ausschließlich nationaler Historiker-Eliten auf die Geschichtsinterpretation ihrer Länder Geschichte. Die Medien und mit ihnen das nationale und internationale Medienpublikum bringen sich mit ihren eigenen Logiken in die Geschichtsvermittlung ein. Das trifft umso mehr auf den Holocaust zu, der heute als Paradigma für den Zivilisationsbruch schlechthin fungiert, und dessen Aneignung neben diverser nationaler Varianten eine übergeordnete Tendenz zum Humanitätstransfer und Kosmopolitismus erkennen lässt.
An den in Wien koordinierten und von der Stadt Wien unterstützten Untersuchungen zur Holocaust-Dokumentation „Nacht und Nebel“ nahmen bislang über 2000 Personen aus 8 Ländern teil, die im Hinblick auf Wissenstransfer, Vermittlung humanitärer Werte und auf Effekte ihrer nationalen Identität getestet wurden. Die Forschergruppe aus Kommunikationswissenschaftler und Historiker verwendet ein neu entwickeltes Messinstrument zur multidimensionale Geschichtsvermittlung („Multi-dimensional Imparting of History“, MIH), das es gestattet, Medienwirkungen auf das historische Bewusstsein sowie auf aktuelle Konflikte und auf Dimensionen nationaler Identität abzuschätzen und ggf. unerwünschte Effekte durch eine Veränderung der Medienkommunikation zu korrigieren.
Bei Österreichern und Deutschen dominierte nach der Rezeption der Holocaust-Dokumentation die Kritik am aggressiven Nationalismus - genau an der aggressiven Komponente nationaler Identität, die zu den Judenprogromen wesentlich beitrug. Die stärkste Zunahme des Kosmopolitismus im Sinne kritischer Reflexion der nationalen Identität, Toleranz von Diversität und Akzeptanz von supranationalen Institutionen wie EU und UNO wurde in Israel ermittelt. Auch in Russland stieg der Kosmopolitismus nach der Nacht&Nebel-Rezeption signifikant an, allerdings begleitet von einer Zunahme des Nationalismus, der eine Tendenz zur Abschottung und Anwendung militärischer Gewalt umfasst. Wir interpretieren dies als einen Effekt der „Rahmung“ durch das Narrativ des „Großen Vaterländischen Kriegs“, demzufolge die Aggression des Hitlerfaschismus nur mit Unterstützung aller Sowjetbürger und dem entschlossenen Kampf der Roten Armee besiegt werden konnte.
Interessanterweise stieg auch im weit entfernt liegenden Vietnam bei interferierenden Erinnerungen an den eigenen Befreiungskrieg zwar der Kosmopolitismus im Gefolge der Holocaust-Rezeption an, ein nationalistischer Reflex aufgrund militärischer Bedrohtheitsvorstellungen wie in Russland jedoch unterblieb. Dies entspricht exakt dem ukrainischen Verarbeitungsresultat, bei dem ein nationalistischer Reflex nach der Holocaust-Rezeption trotz aktueller bewaffneter Konflikte mit Russland nicht nachweisbar ist, sich also der Kosmopolitismus ohne nationalistische Begleitmusik entfalten konnte.
Dies bestätigten auf der Konferenz die prominenten israelischen Soziologen und Holocaust-Experten Moshe Zuckermann und Natan Sznaider, die sich einesteils trefflich über die aktuelle israelische Erinnerungspolitik stritten, aber andererseits der zentralen These von der Kosmopolitisierung des Holocaust uneingeschränkt zustimmten.
Die türkische Seite verwies mit Esra Arcan auf die absichtsvolle „Dissoziation“ der offiziellen Türkei mit dem Thema Holocaust und plausibilisierte damit einen Teil der Ergebnisse zur ambivalente Wirkung der Holocaust-Dokumentation „Nacht und Nebel“ in ihrem Land. Einerseits führte die stark opferzentrierte Rezeption zu einer erhöhten Legitimation des Staates Israel, andererseits wurden bei einem Teil der türkischen Rezipienten antisemitische Vorurteile verstärkt. Identitätseffekte und Humanisierungstendenz folgen im Übrigen dem Muster der anderen Länder.
Insgesamt ist die internationale Rezeption der Holocaust-Dokumentation „Nacht und Nebel“ durch eine Stärkung zivilisatorischer Dispositionen und humanistischer Werte gekennzeichnet: einen Abbau von Vorurteilen gegenüber Minderheiten, eine Stärkung des kompromissorientierten Konfliktmanagements und teilweise auch durch ein erhöhtes Engagement für Menschenrechte. Das schließt nicht aus, dass die mediale Holocaust-Erinnerung zuweilen auch für fragwürdige politische Zwecke in Dienst genommen wird. Der ungarische Psychologie-Historiker Ference Erös fokussierte die damals wie heute schwierige Situation jüdischen Lebens in Ungarn und kritisierte die nationalistisch ausgerichtete Erinnerungspolitik der Regierung, die den Holocaust als bloße Illustration für das ungarische Opfer-Erleben instrumentalisiere. In postheroischen Gesellschaften können offenbar Juden als moralische Ressource für Interessenspolitiken in Reserve gehalten werden.
Für weitere Dokumente zum Projekt kontaktieren Sie bitte Fr. Regina Außerwöger (regina.ausserwoeger@univie.ac.at)
Für Rückfragen und Interviewanfragen bitte direkt bei Prof. Dr. Jürgen Grimm melden (juergen.grimm@univie.ac.at)